Der ausgestopfte Wolf
Eine Geschichte mit Till Eulenspiegel im Landkreis Helmstedt
So ging er in die Kreisstadt Helmstedt, um seine Sorgen und Nöte dem Rat des Landkreises vorzutragen. Da in der Stadt Helmstedt keine Jugendherberge mehr vorhanden ist - welcher junge Mensch will schon nach Helmstedt -, suchte er sich die billigste Herberge in der Stadt aus. Er setzte sich in eine dunkle Ecke und trank ein Bier. Am nächsten Tag sollte er in einer Anhörung sein Leid vortragen.
Zahlreiche Aktivist*Innen hatten sich als Gegendemonstrant*Innen bereits in der Gaststube versammelt und schwärmten von der Bereicherung durch wilde Wölfe.
Am späten Abend wurde noch einmal an die Tür geklopft. Zwei Aktivist*Innen aus der Hauptstadt Berlin waren gekommen, um den Wölfen beizustehen.
Ann-Christin mit dem Nasenring und Sören mit dem Dutt waren mit der Bahn angereist. Sie nutzten dazu das soziale Deutschlandticket, das für Berliner nur 29.-Euro pro Monat kostet. Mit ihren beiden Lastenrädern hatten sie das komplette Radfahrerabteil belegt, und zusammen mit ihrem Gepäck beanspruchten sie acht Fahrgastplätze.
Jetzt wurden sie von einigen ihrer Gesinnungsgenoss*Innen erwartet. Lautstark debattierten sie über die Biodiversität und den Wert der Wölfe an sich. Der Wolf sei eine absolute Bereicherung im Landkreis Helmstedt. Es könne gar nicht genug Wölfe geben. Menschen hätten vor den scheuen Tieren nichts zu befürchten. Im Begegnungsfall reiche lautes Schreien, um sie zu verscheuchen.
Einige anwesende Gäste versuchten, eine Diskussion zu beginnen, aber mit “alten weißen Männern” diskutieren Aktivist*Innen nicht. Sonst sind sie sehr vorsichtig und bedächtig in ihrer Wortwahl - neudeutsch "woke“. “Alte weiße Männer” kann man mit gutem Gewissen als Nazis, Faschisten und Rechtsextremisten bezeichnen. Nach der reinen Lehre des “Postkolonialismus” kann man “alte weiße Männer” nicht beleidigen. Ja man braucht mit ihnen gar nicht zu diskutieren.
Till in seiner Ecke war immer noch wütend über seine 25 getöteten Schafe. Die Aktivist*Innen aus Berlin wollten natürlich nicht das kapitalistische Beherbergungssystem unterstützen. Sie hatten ihre Zelte dabei und übernachteten am nahe gelegenen Waldrand.
Till wusste, dass im Kreisheimatmuseum noch ein ausgestopfter Wolf im Lager war. Nicht faul schleppte er zwei der zerfetzten Schafe vor den Ausgang des Zeltes und den ausgestopften Wolf mit gefletschten Zähnen darüber.
Mitten in der Nacht veranstaltete Till ein fürchterliches Wolfsgeheule.
Die Ann-Christin mit dem Nasenring und der Sören mit dem Dutt krabbelten verschlafen aus dem Zelt, direkt hinein in die verstümmelten Schafe und blickten in die gefletschten Zähne des Wolfes. Ihr lautes Angstgebrüll nutzte nichts. Der Wolf stand fest über seiner Beute und bleckte sein fürchterliches Gebiss. Voller Panik sprangen die Aktivist*Innen auf ihre Lastenräder und strampelten los in Richtung Osten, vorbei an der Magdeburger Warte und ohne anzuhalten bis nach Berlin. Dort rannten sie in ihre Altbauwohnung mit dem durch Cannabispflanzen begrünten Balkon. Eilig schlossen sie die Tür zweimal hinter sich ab.
Direkt gingen sie ins Internet und posteten über Social-Media ihre Heldentat, dass sie mitten in einem Wolfsrudel gezeltet haben - ein großartiges Erlebnis. Der Wolf müsse noch strenger geschützt werden. Insgeheim waren sie natürlich froh, wieder in der sicheren Großstadt zu sein.
Die Ann-Christin mit dem Nasenring und der Söhren mit dem Dutt wurden nie wieder im Landkreis Helmstedt gesehen. Fortan verließen sie die Stadt nur noch mit dem Flugzeug - vorzugsweise in ferne Länder des Globalen Südens.
Till Eulenspiegel hatte ein wenig Genugtuung, musste aber mit Verbitterung feststellen, dass ein Narr nichts gegen viele Narren ausrichten kann.
Verfasser: Wolfgang Schmidt
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